April 23, 2024

Das Schweigen der Lemminge

Irgendetwas war falsch an diesem Tag in Deutschland. In den Straßen, auf den Plätzen, in den Bahnhöfen sah man plötzlich wieder Gruppen von Kids miteinander reden. Da konnte ganz einfach etwas nicht stimmen. Es piepste nicht, es tickerte nicht. Es erklang nicht wie sonst um einen herum in einer schier nicht enden wollenden Kakophonie ‚Für Elise‘ oder eine Prelude von Bach – elektronisch fürchterlich entstellt. Trotz des unvermindert brausenden Verkehrs genoss man eine völlig neue Art von Ruhe. Also wirklich, es konnte etwas nicht stimmen. Ganz und gar nicht.

Kaum eine Vertreterin oder ein Vertreter unseres mehr oder weniger vielversprechenden Nachwuchses hatte ein Handy in der Hand. Das war’s. Das genau war es also, was diesen Tag von den anderen so unterschied. Ein technisches Problem hatte an einem Freitag bundesweit das Netz von ‚E-Plus‘ lahmgelegt. Ein schwarzer Freitag für den Netzbetreiber. Ein lichter Tag für all‘ jene, die die Stunden in den eigenen vier Wänden herbeisehnen, nur um endlich dem ständigen Gepiepse und Gedudel der Handys zu entfliehen.

Redet die Jugend eigentlich noch miteinander? Im Durchschnitt senden die jugendlichen Handybesitzer täglich sechs SMS. Also die meist unwichtigen, nichtssagenden Kurznachrichten. Kein Wunder, dass man ganze Gruppen von Heranwachsenden sieht, die zwar beieinander stehen, aber offenbar nur miteinander  kommunizieren können, indem sie die Tastaturen ihrer Handy malträtieren. Gott, wie ich mir die Tage zurückwünsche, als nur der überlaut eingestellte Walkman des Nachbarn im Zug durch das eintönige Dröhnen einzelner Töne nervte. Heute kann man sich nicht einmal mehr auf seine Zeitung konzentrieren, weil einen von allen Seiten Töne in den verschiedensten Lagen umschwirren, die jeden einzelnen Tastendruck auf den zahllosen, einen umgebenden Handys dokumentieren.

Und wie sich die Zeiten ändern! Als ich vor nicht ganz zehn Jahren mein erstes Funktelefon bekam, hielt ich es – soweit es die damalige Baugröße überhaupt erlaubte – möglichst versteckt, um nicht als Außenseiter, ja Wichtigtuer abgestempelt zu werden. Und heute? Heute braucht ein Heranwachsender bereits ein Handy, um überhaupt von seiner Umwelt wahrgenommen zu werden. Wie die Lemminge strömen sie in die Läden, um ja auch immer das neueste Modell zu erhaschen. Von wegen „Free & Easy“!

Waren das noch Zeiten, als die Jugend ’nur‘ auf Designerklamotten stand. Diese waren zwar nicht unbedingt immer eine Augenweide – aber sie schonten zumindest Ohren und Nerven. Das Endziel der Marktdurchdringung der Handys ist möglicherweise erst dann erreicht, wenn das Geschrei der Babys aus unserer Welt verbannt ist. Dann steht vermutlich auf dem Handy-Display der Neuzeitmutter die SMS des Neugeborenen „Mutti, ich habe Durst“. Vielleicht bedarf es ja auch nur einer stilisierten, in Pixeln dargestellten Flasche – natürlich schon vorgefertigt geliefert von den immer neue Märkte suchenden Netzbetreibern. Ach, zwischen uns Menschen wird es immer stiller in dieser lauten Welt!

[S.K.]