Juli 27, 2024

Inzidenz absurd

In Anbetracht wachsender Infektionszahlen stoßen deutsche Labore an ihre Grenzen. Ungefähr 2,5 Millionen PCR-Tests können pro Woche vorgenommen werden.  Bei einer Quote von 25 Prozent für positive Fälle liegt die Obergrenze bei 625.000 Neuinfektionen pro Woche bzw. bei durchschnittlich 89.250 Neuinfektionen am Tag. Nachdem wir inzwischen bei über 112.000 Neuinfektion am Tag angekommen sind, bleibt die Frage, wie diese Zahlen ermittelt werden?

Noch gibt es freie Kapazitäten, aber wenn die Zahl der täglichen Neuinfektionen weiter so steigt, und Gesundheitsökognom Karl Lauterbach geht davon aus, dass die Spitze erst im Februar erreicht wird, wird es schon sehr bald eng werden. Bis zur Höchstgrenze fehlen vielleicht noch 12 Prozent. Seit Weihnachten wurde die Zahl der PCR-Tests verdoppelt. (Quelle: ALMeV)

Wie die sächsische Sozialministerin bei LANZ bestätigte, werden bei erschöpften Testkapazitäten auch positive Schnelltest-
Ergebnisse an die Gesundheitsämter gemeldet und finden dann Berücksichtigung in den Zahlen der Neuinfektionen. Diese Praxis wurde von Bundeskrankheitsminister Lauterbach bestätigt.

Was nicht erwähnt wurde ist, dass in der Praxis weniger als 10 Prozent der positiven Schnelltests durch einen PCR-Test bestätigt werden. Ein MDR-Mitarbeiter hat für einen Podcast mit dem Virologen Prof. Kekule beim RKI angerufen und nach der Quote gefragt, d.h. wie viele von diesen positiven Schnelltests durch einen PCR-Test bestätigt wurden. Hierfür wurden weniger als 10 Prozent genannt, im Podcast ging man von 5 bis 7 Prozent aus. Bestenfalls landen also 93 Prozent der positiven-falschen Schnelltests in der Statistik der Neuinfektionen. Das könnte schon zu einer erheblichen Übertreibung der Zahlen führen, macht den Indikator 7-Tage-Inzidenz auf jeden Fall völlig wertlos.

Im Sommer war die Zahl der positiven Schnelltests noch sehr gering, weil das Infektionsgeschehen insgesamt gering war. Außerdem gab es im Sommer noch keine Testpflicht für den Arbeitsplatz. Die Frage nach dem Anteil der Überprüfung der Schnelltests an der Gesamtzahl der PCR-Tests führte zu dieser Antwort des RKI: „Der Anteil der dem RKI übermittelten PCR-Tests, denen ein positiver Schnelltest voranging, liegt bei unter 10 Prozent.“ (Mail der Pressestelle vom 18.10.2021) In Anbetracht einer wesentlich ansteckenderen Virusvariante Omikron  und der höheren Anzahl an durchgeführten Tests, wird der Anteil der Schnelltests erheblich steigen. Diese ohne Verifizierung durch einen PCR-Test in die Statistik der Neuinfektionen aufzunehmen, wird die 7-Tage-Inzidenz ungerechtfertigt in die Höhe treiben, weil deren Zahl um einen Faktor von wenigstens 10 zu hoch sind. Dieser über Monate verlässlich genutzte Vergleichswert hat jetzt an Aussagekraft verloren.

Die Überlastung der Labore macht zudem eine Priorisierung der PCR-Tests nötig. Wenn man nicht mehr jeden Getesteten in der optimalen Weise ein Ergebnis liefern kann, dann sollte man diejenigen auswählen, bei denen ein korrektes Ergebnis unerlässlich ist. Folgende Kriterien führen zu einem PCR-Test:

  1. Zur Feststellung von Quarantänefällen bzw. zur Freitestung von Menschen,
  2. Test für Menschen, die entweder Symptome haben, oder die in systemrelevanten Berufen arbeiten,
  3. Test zur Feststellung der Genesenen.

Weil bereits im Sommer bei niedrigsten Inzidenzen die Labore über 1 Millionen PCR-Tests pro Woche vorgenommen haben, erging an das RKI die Frage, wer denn da aus welchem Grund getestet wird? Die ernüchternde Antwort: „… hier können wir nicht weiterhelfen, die gewünschten Daten liegen uns nicht vor.“ (Mail der Pressestelle vom 19.10.2021)

Man darf gespannt sein, ob nach dem Priorisierungspapier von Karl Lauterbach das RKI auf die Frage immer noch keine Antwort hat. Die Not der geringen Testkapazitäten führt nun auch zu neuen Bewertungen. So behauptet der Bundeskrankheitsminister aktuell, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der PCR-Test ein anderes Ergebnis anzeige als ein professioneller Antigen-Test, sei „sehr gering bei der hohen Prävalenz der Omikron-Variante“. Auch das Schnelltest-Ergebnis gehe an das Gesundheitsamt. Der PCR-Test ist somit nicht mehr Voraussetzung für die Meldung beim RKI. So erspart man sich wichtige PCR-Kapazitäten für den Höhepunkt der Welle.

Ein kurioser Wandel der Aussage, schließlich hat man sich gegen 3G für Einzelhandel und Restaurants ausgesprochen, weil die Schnelltests zu unsicher seien. Folgerichtig müsste nach der Neubewertung der Schnelltests nun auch wieder überall 3G gelten. Das erscheint aber eher unwahrscheinlich, denn wie alle längst wissen, gibt es 2G oder 2G+  ausschließlich nur um Ungeimpfte zu betrafen und stellt somit eine indirekte Impfpflicht dar. Das kann jetzt wirklich niemand mehr leugnen. Dass damit dem Einzelhandel und der Gastronomie ein schwerer Schaden zugefügt wird, interessiert in der Politik absolut niemanden.

Die Priorisierung soll sich auch auf die Arbeit der Gesundheitsämter auswirken. Zur Nachverfolgung der Kontakte von Infizierten sagte Lauterbach mit Blick auf die erwartete hohe Fallzahl: „Das wird kein Gesundheitsamt mehr abarbeiten können, auch nicht mit Hilfe der Bundeswehr. Wir brauchen daher schnellstmöglich einen Fokus der Kontaktnachverfolgung, zum Beispiel bei Lehrkräften, medizinischem Personal, Beschäftigten von Energie- und Wasserversorgern, Einsatzkräften und anderen Bereichen der kritischen Infrastruktur.“ (Quelle: RND)

Da hat der stets bemühte Minister aber schon lange den Schuss nicht mehr gehört. Alles jenseits einer Inzidenz von 50 ist für Gesundheitsämter nicht mehr nachvollziehbar. Die Einschränkung der Nachverfolgung auf wenige Berufsgruppen wird in Anbetracht einer zu erwartenden 7-Tage-Inzidenz von weit über 1.000 daran kaum etwas ändern. Der Satz klingt aber schön, das formulierte Ziel erscheint plausibel, nur in der Praxis umgesetzt wird das realistischer Weise alles nicht.

PCR-Tests europaweit

Nirgendwo in Europa werden so wenige PCR-Tests durchgeführt wie in Deutschland. Eine Kapazitätsgrenze von 2,5 Millionen ist  für die größte Wirtschaftsnation der EU absolut peinlich. Bulgarien kann mehr als doppelt so viel testen, Spanien dreimal so viel, Italien siebenmal so viel und das Vereinigte Königreich zehnmal so viel. In Griechenland und Österreich wurden fast 20-mal so viele Menschen auf eine Corona-Infektion getestet.

Dabei gelten PCR-Tests seit Beginn der Pandemie als der Goldstandard der Infektionsmessung und damit als eine tragende Säule des Krisenmanagements. Weil ein großer Anteil der Infektionen ohne Symptome verläuft, bemerken zahlreiche Infizierte ihre Infektion ohne Testergebnis nicht. Aktuellen Zahlen zufolge verlaufen bis zu 40 Prozent der Omikron-Fälle asymptomatisch. (Quelle: BusinessInsider.de)

Weil so wenige Tests in Deutschland durchgeführt werden, ist die Datengrundlage unzuverlässig, und die offiziellen Inzidenzen in Deutschland können nicht mit denen anderer Länder verglichen werden, in denen um ein vielfaches mehr getestet wird. Denn eines ist klar: Je mehr Tests, desto mehr asymptomatische Fälle gehen in die Statistiken ein, die ansonsten nicht entdeckt worden wären. Ein Blick auf die aktuellen Zahlen zeigt, dass alle Länder mit sehr hohen Inzidenzen – wie Dänemark, das Vereinigte Königreich, Portugal und Israel, zugleich auch sehr viele Tests durchführen. Wenn in Deutschland ähnlich viel wie in andern Ländern getestet würde, dann wäre die Inzidenz möglicherweise ebenfalls deutlich höher.

Quelle: ourworldindata.org

Die aktuelle Inzidenz liegt für Deutschland deutlich unter dem Durchschnitt in der EU und erreicht vielleicht ein Fünftel der aktuellen Inzidenz von Dänemark. Dort lässt man sich von diesen Werten nicht in die Irre führen und plant gerade, weitere Corona-Maßnahmen zu lockern. In Deutschland ist die Panik weiterhin groß, obwohl weder die Inzidenzen noch die Situation auf den Intensivstationen dies rechtfertigen würden.

Teurer Spaß mit geringer Aussagekraft

Auch wenn die Inzidenzen höchst unterschiedlich sind und such die daraus gefolgerten Maßnahmen von Land zu Land unterschiedlich zu Einsatz kommen, ist noch keine wirkliche Abkehr vom flächendeckenden Testen vorgesehen. Das kann man in vielen Länder leichter entscheiden, weil die Kosten dort deutlich niedriger liegen. In Deutschland sieht das anders aus.

„Aktuell vergütet der Bund die Testung mit 43,56 Euro. Diese Vergütung umfasst die allgemeinen ärztlichen Laborleistungen, Versandmaterial und Transportkosten. Der Abstrich wird davon separat im Rahmen der Test-Verordnung mit derzeit acht Euro vergütet“ heiß es vom Bundesgesundheitsministerium auf Anfrage. Das sind in der Summe 51,56 Euro. Damit ist der PCR-Tests in Deutschland rund 43 Euro teurer als in Österreich. (Quelle: BusinessInsider.de) Im Nachbarland ist der PCR-Test sogar günstiger als bei uns der Schnelltest. Für manche läuft es in der Pandemie eben wie geschmiert.

Wenn man sich anschaut, in welchen Altersklassen die Neuinfektionen entstehen, erkennt man, dass es zu einer Pandemie der jungen Menschen geworden ist. Erschreckend ist dabei die hohe Zahl an Infektionen bei den Kleinkindern. Dass die Zahlen der Schüler durch die Decke schießen werden, war ja vorher klar. Bei den über 60-jährigen  liegt die Inzidenz bei 250. Dieser Wert hat sich jetzt über zwei Monate lang kaum geändert. Die Inzidenz der über 80-jährigen steht ebenfalls schon länger bei einem zweistelligen Wert. Die hohe Gesamt-Inzidenz über alle Altersklassen wirkt sich also kaum auf die Situation der Risikogruppen aus. Die eingangs gestellte Frage, ob es noch Sinn macht, weiterhin flächendeckend über alle Altersklassen zu testen, ist angesichts der Fakten eher fragwürdig. Vielleicht schafft man mit den gesparten Milliarden für das Testen endlich mal Luftfilter für Schulen an oder bezahlt Pflegekräfte besser. Aber das will nach wie vor niemand.

 

Weitergehende Informationen

tagesschau: Was Österreich bei den PCR-Tests besser macht